Überwinterung und "Vernalisation"

Wissensbeiträge

Überwinterung und "Vernalisation"

Beitragvon Merkur » Sonntag 28. Dezember 2014, 11:50

„Vernalisation (lat. vernalis „Frühlings-“) … bezeichnet die natürliche Induktion (Anregung) des Schossens und Blühens bei Pflanzen durch eine längere Kälteperiode im Winter.“ - http://de.wikipedia.org/wiki/Vernalisation
Der Begriff wird heute fast ausschließlich für Pflanzen verwendet. Viele Pflanzenarten aus Mittelbreiten (also auch bei uns heimische Arten) benötigen einen solchen Einfluss um anschließend in der wärmeren Jahreszeit Blüten und Früchte anzusetzen. (siehe Beitrag viewtopic.php?f=50&t=79&p=5599#p5599)

Auch für wechselwarme Tiere, besonders Insekten, ist häufig eine solche Kälteperiode erforderlich, um sie wieder „in Frühjahrsstimmung“ zu versetzen. Dazu werden allerdings andere Begriffe wie Dormanz oder Diapause verwendet. http://de.wikipedia.org/wiki/Dormanz
Insbesondere die z. T. endogen eingeleitete Diapause benötigt häufig eine Kälteeinwirkung, damit anschließend die Dormanz beendet wird.

Bei Ameisen kam ich frühzeitig im Verlauf meiner Arbeiten zur Dissertation darauf, dass „meine“ Leptothorax- und Temnothorax-Arten nur nach einer Kälteperiode wieder wirklich aktiv wurden, und vor allem, dass sie Voraussetzung für die Produktion von Geschlechtstieren war! Und das war entscheidend, denn ich wollte ja züchten. :)

Die Gattungen und z. T. sogar Arten unterscheiden sich darin, dass sie unterschiedlich lange Kälteperioden benötigen. Für die meisten unserer heimischen Arten ist das nicht im Einzelnen untersucht. Viele dürften auch ohne Kälteeinwirkung nach einer gewissen Ruhephase wieder m. o. w. aktiv werden, sogar Brut aufziehen. ABER: Oft bleibt dann eben die Produktion von Geschlechtstieren aus! Und oft auch werden die Tiere dann auch nicht mehr so aktiv wie in einem naturnahen Jahreszyklus.
Kolonien einer Art, die an ein Klima mit Winterkälte angepasst ist, können in einem Gebiet ohne Winter (oder eben in der Formikar-Haltung ohne kalte Überwinterung) vielleicht ein paar Jahre überleben. Wenn sie aber keine Geschlechtstiere ausbilden können, werden die Völker „kinderlos sterben“, wird die Art an einem Ort ohne Winter unweigerlich erlöschen!

MfG,
Merkur
  • 4

Benutzeravatar
Merkur
Beirat
 
Beiträge: 3582
Registriert: Sonntag 6. April 2014, 07:52
Wohnort: Reinheim
Bewertung: 9807

Re: Überwinterung und "Vernalisation"

Beitragvon Trailandstreet » Montag 12. Januar 2015, 09:18

Soweit mag ja alles klar sein. Es wird kalt - die Ameisen gehen in die Überwinterung, es wird wieder wärmer - sie beginnen wieder mit ihrem "normalen" Leben, Futter sammeln, Brutaufzucht etc.
Was mir allerdings am Wochenende aufgefallen ist, gibt doch etwas zu denken. Am Samstag, bei ca 14°C Aussentemperatur lief mir doch glatt eine furagierende Myrmica Gyne über den Weg, sprich die Terrasse. Es handelte sich vermutlich um ruginodis, soweit ich das einschätzen konnte, da ich sie weiter laufen ließ und nicht aufgehoben hab.
Da stellt sich doch die Frage, was passiert bei derart warmen Wintertagen, dass sie sogar wieder die Nester verlassen?

Meine eingewinterten Ameisen waren übrigens auch sehr aktiv in dieser Zeit.
  • 0

Benutzeravatar
Trailandstreet
Mitglied
 
Beiträge: 1170
Registriert: Mittwoch 9. April 2014, 21:02
Wohnort: Ho'mbua
Bewertung: 1692

Re: Überwinterung und "Vernalisation"

Beitragvon Merkur » Montag 12. Januar 2015, 10:26

Hallo Trailandstreet,

Wir dürfen bei diesen Fragen nicht kurzfristig denken! Über Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende hinweg schwankt das Klima in den Mittelbreiten (also bei uns) ganz enorm, über mehrere Jahre hinweg, von Jahr zu Jahr, aber auch innerhalb eines Winters wechseln kalte, sehr kalte, nasse oder auch mal ungewohnt warme Perioden einander ab.
Arten, die bei uns von Natur aus leben, sind daran angepasst. Die lassen sich durch ein paar zu warme Tage nicht aus der Ruhe bringen.

Deine „furagierende Gyne“ wird nicht viel zum Furagieren finden. Ob sie durch Nässe aus ihrer Gründungskammer vertrieben wurde, durch eine Störung (z. B. Amsel beim Wühlen nach Futter), ob sie wieder zum Nest zurück gefunden hat, ob es eine junge Königin war, oder eine unbegattete Gyne, die im Nest als Arbeiterin tätig ist (gibt’s bei Myrmica!), das alles wissen wir nicht! So kann man aus dieser einen Beobachtung rein gar nichts schließen.

Im größeren Rahmen wissen wir ohnehin viel zu wenig über die einzelnen Gattungen und Arten unserer Fauna, was die Überwinterung anbelangt.
Im AF verfolge ich einen Thread über ein jetzt im Winter im Haus aktives Volk von Tetramorium cf. caespitum/impurum. http://www.ameisenforum.de/topic53201.html . Du kennst ihn.
Aus meinen zahlreichen Beratungen zu Hausameisen habe ich schon lange den Verdacht, dass etliche einheimische Ameisenarten bei hinreichender Wärme und einer Nahrungsquelle durchaus ohne Winterruhe leben können. Was wir nicht wissen: Erzeugen sie unter diesen Bedingungen auch Geschlechtstiere?
Falls sie dazu nicht in der Lage sind, könnte das z.B. erklären, weshalb solche Ameisen in den nach Süden angrenzenden wärmeren Regionen (Mittelmeerklima, Subtropen, Tropen) fehlen: Ohne funktionierende Fortpflanzung leben dort vielleicht einmal gegründete Kolonien bis sie den Alterstod sterben, ohne für neue Völker sorgen zu können. So kann keine Population entstehen.

In letzter Zeit gibt es ja auch Berichte, wonach Manica rubida in der Haltung noch im Winter fleißig Brut produziert.
Wichtiger Gedanke: Vielleicht kann man einige Arten unserer Fauna durchaus warm durchpflegen, ohne Winterruhe!
Den meisten Haltern kommt es ja nur darauf an, dass sie etwas zu beobachten haben. Die Zucht ist wegen der Probleme bei der Paarung in der Haltung nur bei wenigen Arten möglich. Und die Völker sind ohnehin der Wildpopulation entzogen. Für die Natur ist es dann völlig egal, ob diese Völker vielleicht (wir wissen es nicht!) ohne Überwinterung ein paar Jahre früher eingehen, und manchem Halter werden die Tiere ohnehin nach 2-3 Jahren langweilig.
Steht ja so ähnlich auch bereits im Startpost.

Schließlich erfreuen sich Halter von Hunden, Katzen, Kaninchen oder exotischen Waschbären, Nasenbären etc. an der Pflege dieser Tiere auch wenn sie kastriert sind! (Umso mehr, als dann die Probleme mit unerwünschtem Nachwuchs wegfallen). ;)

Vielleicht sollten wir einen eigenen Thread aufmachen, in dem Berichte über erfolgreiches (mehrjähriges) „warmes Durchpflegen“ einheimischer Ameisen gesammelt werden?

MfG,
Merkur
  • 2

Benutzeravatar
Merkur
Beirat
 
Beiträge: 3582
Registriert: Sonntag 6. April 2014, 07:52
Wohnort: Reinheim
Bewertung: 9807

Re: Überwinterung und "Vernalisation"

Beitragvon Boro » Montag 12. Januar 2015, 13:22

Der älteste Sohn hat sich im Sommer 2014 ein Haus gekauft und ist eingezogen. Im Herbst bemerkte er einzelne Ameisen in der Küche, von wo aus eine Türe auf die Terrasse führt. Ein kurzer Blick von Boro hat gereicht: Camponotus truncatus-Arbeiterinnen, die üblicherweise zwar ältere Dachstühle od. Holzkonstruktionen beziehen, aber kaum einmal das Hausinnere. Ich gab damals "Entwarnung", schon im Hinblick auf eher geringe Populationsgrößen.
Winter 2014/2015: Etliche Ameisen laufen immer noch in der Küche herum, an der Wand entlang, überall (!!!). Das Nest wurde inzwischen im unteren Bereich der Terrassentüre lokalisiert. Die Arbeiterinnen sind voll aktiv, kaum einzufangen und nähren sich offenbar an Bröseln, viell. einmal einem Tropfen Saft auf dem Boden; all das stammt vom kleinen Enkerl mit 1,5 Jahren und wird nicht immer prompt beseitigt!
Zum Glück kommt kein Gift zum Einsatz, nur ein schmaler Falz zw. Küchenfliesen und Balkonzarge wurde abgedichtet. Bin schon gespannt, wie´s weitergeht....
L.G.
  • 3

Boro
Moderator
 
Beiträge: 1731
Registriert: Mittwoch 9. April 2014, 08:13
Bewertung: 3432

Re: Überwinterung und "Vernalisation"

Beitragvon Merkur » Montag 12. Januar 2015, 15:21

Hallo Boro:
...Sohn hat sich im Sommer 2014 ein Haus gekauft...
Das war also wohl einige Jahre alt, und unten an einer hölzernen Terrassentür gibt es dann oft morsche Stellen, wo sich auch Ameisen einnisten können (Erfahrung aus meiner Beratungstätigkeit). Im Zweifelsfall von einem Schreiner überarbeiten lassen! Zu Kunststofftüren mag ich aufgrund eigener miserabler Erfahrungen nicht raten. :mad:

Zur Ernährung solcher Ameisen im Winter kommt mir der alte, freche Spruch in den Sinn, aus einem Gespräch unter Hausfrauen über Sauberkeit in der Wohnung:
"Bei uns kann man vom Boden essen. Da findet man immer etwas!" :D
Zumal, wenn Kinder da sind. Auch gibt es in Türfalzen usw. sehr oft Spinnen, Gelege, div. Insekten, die auch an wärmeren Wintertagen noch da einziehen können.

MfG,
Merkur
  • 0

Benutzeravatar
Merkur
Beirat
 
Beiträge: 3582
Registriert: Sonntag 6. April 2014, 07:52
Wohnort: Reinheim
Bewertung: 9807


Zurück zu Wissensforum

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 8 Gäste

Reputation System ©'