Luftverfrachtung von Geschlechtstieren

Hier können allgemeine Fragen zum Thema Ameisen, sowie zu europäischen Ameisenarten gestellt werden.

Luftverfrachtung von Geschlechtstieren

Beitragvon Boro » Mittwoch 2. Dezember 2015, 19:05

Fernverfrachtung von begatteten Gynen

Der Bericht über die winterliche Aktivität v. Prenolepis hat mich zum Thema animiert!
Passive Verfrachtung von Geschlechtstieren durch Windströmung trägt zur Verbreitung der Arten bei. Dieser Vorgang ist nur im Rahmen des Schwarmfluges vorstellbar, wenn Geschlechtstiere zu erhöhten Rendezvousplätzen abfliegen. „Nach der Begattung vollführen die Weibchen meist einen Ausbreitungsflug, der über große Distanzen gehen kann, wenn sie in höhere Luftschichten aufsteigen und sich durch Winde passiv transportieren lassen.“ (SEIFERT S. 38).
Was sind „große Distanzen“? Diese Frage will ich an Hand einiger historischer und in jüngster Zeit belegter Vorfälle am Beispiel Kärnten erörtern:

1. GÖTSCH W.(1950: Beiträge zur Biologie und Verbreitung der Ameisen in Kärnten und in den Nachbargebieten) berichtet vom Fund einer dealaten Gyne von Camponotus aethiops auf der Spitze der Gerlitzen in Kärnten (1900 m) am 12. 9. 1942. Teilweise scheint Götsch C. aethiops mit C. fallax verwechselt zu haben, darauf deuten nähere Fundumstände v. C. aethiops am Wörthersee hin [WAGNER H. C. (2014): Die Ameisen Kärntens: 212]. Götsch befasst sich mit der Möglichkeit von Einwehungen begatteter Weibchen aus Italien und wenn er sich auch bei dem genannten Fund in der Art geirrt haben sollte, erscheint die Existenz v. C. fallax auf 1900 m völlig untypisch. Bei Annahme der Minimalvariante – das Tier wäre beim Schwärmen im Klagenfurter Becken vertragen worden, ergibt sich immer noch eine vertikale Differenz von mindestens 1200 m (Vorkommen von C. fallax bis 700 m, von C. aethiops bis 600 m (WAGNER: S. 211 bzw. 214).
2. Im Sommer 2000 wurde eine Arbeiterin von Prenolepis nitens am Kreuzeck „zwischen 1800 und 2200 Seehöhe in der Latschenzone“ gefunden (leider keine genauere Höhenangabe!) [STEINER F. M. & B. C. SCHLICK-STEINER: Die Honigameise Prenolepis nitens (Mayr, 1852)(Hymenoptera: Formicidae) neu für Kärnten und erstmals im Gebirge). Die fast unglaubliche Meldung stammt von ausgewiesenen Experten; der Lebensraum von P. nitens wird üblicherweise mit Weinbaugebieten unter 500 m Seehöhe in Verbindung gebracht. Offenbar muss eine verwehte Gyne sogar ein Nest in dieser Höhe gegründet haben, sonst gäbe es keine Arbeiterin. Nun wissen wir aus einer neuen Publikation, dass P. nitens auch bei niedrigen Temperaturen furagieren kann und über eine ungewöhnliche Kältetoleranz verfügen dürfte (viewtopic.php?f=23&t=1211). Wie auch immer – die nächsten Fundgebiete der Art sind Friaul, die Südsteiermark und die Stajerska in Ostslowenien. Wenn wir Tolmezzo in Friaul als fiktiven nördlichsten Standort der Art heranziehen, ergäbe sich immer noch eine Horizontaldistanz von über 40 km und eine Vertikaldistanz von 1800 m (!!) zum Fundort, sofern wir für die obige Fundangabe das Mittel nehmen. Eine Luftverfrachtung aus der Stajerska würde mindestens 160 km betragen, die Höhendifferenz wäre mit 1600 m unwesentlich geringer.

3. Der Fund einer dealaten Gyne von Proceratium melinum 2014 in Villach in einem Wasserbecken und von 2 alaten Gynen 2015 am selben Ort. Die Art ist neu für Kärnten, die nächsten Fundorte sind wieder in der Steiermark, Ost-Slowenien an der kroat. Grenze und östlich von Görz/Gorica (SLO) sowie Brixen in Südtirol. Es gilt die Annahme, dass die Art sukzessive aus dem Balkanraum einwandert [DIETRICH C. O. (2004): Die Krummameise Proceratium melinum, ein unauffälliger und bemerkenswerter Einwanderer in Österreich]. Für den Fund in Villach dürften wieder 2 Optionen zur Verfügung stehen: Entweder Einwanderung (Einwehung) aus Gorica oder vom Pannonikum, welches wieder in der Stajerska seinen Anfang nimmt. Die Distanz zu den nächsten derzeit bekannten Fundorten bei Gorica bzw. an der kroat. Grenze Sloweniens betragen etwa 70 km bzw. über 140 km.

4. Sommer 2015: Fund einer alaten Gyne v. Camponotus truncatus an einer nächtlichen Lichtfalle nahe der Pasterze in über 2500 m (Gletscher im Großglocknergebiet, Hohe Tauern). Der Fund ist absolut zuverlässig, aber mehr als erstaunlich. Das nächste ausgewiesene Fundgebiet der Art liegt im Lienzer Becken (Osttirol) unter 700 m. Horizontal gemessen ergäben sich hier über 20 km, vertikal über 1800 m.
Probleme:
1. Einwanderung bzw. Einwehung eines Individuums aus einem bestimmten Ursprungsgebiet lassen sich nicht beweisen. Man kann sich dem Thema nur unter Einbeziehung zoogeografischer Aspekte annähern. Einwehungen über große Distanzen u. Höhenunterschiede gelten aber als gesichert.
2. Horizontale Distanzen sind weitgehend als kürzeste Verbindung zw. zwei Punkten gemessen, dazwischen liegen in unserem Fall teilweise Gebirge mit über 2000 m Höhe. Man darf davon ausgehen, dass dazwischen niedrigere Übergänge als Transportwege in Frage kommen. „Normale“ Ausbreitungsflüge der Gynen müssen niedrige Passagen verwenden, etwa entlang von Flussniederungen, niedrigen Übergängen.
3. Windströmungen. Als Starkwind aus dem Süden käme der Südföhn in Frage, der nicht selten auch Staub aus der Sahara mitbringen kann. Für kürzere Distanzen bzw. schrittweise Einwanderung bietet sich der Talaufwind an, der bei autochthoner Witterung tagsüber in Kärnten regelmäßig aus O bis SO weht, im Kanaltal/Val Canale (Verbindung Villach-Friaul) aus S.
L.G.
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Re: Luftverfrachtung von Geschlechtstieren

Beitragvon Trailandstreet » Mittwoch 25. Mai 2016, 20:42

Aus aktuellem Anlass, habe ich hier einen Beitrag aus dem Ameisencafe dort hat sich allem Anschein nach eine Pheidole etwas südlich von Graz verflogen.
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Re: Luftverfrachtung von Geschlechtstieren

Beitragvon Boro » Sonntag 23. Juli 2017, 09:24

Die Fernverfrachtung von alaten Geschlechtstieren ist offenbar weit häufiger, als ich noch vor einiger Zeit vermutet hatte.
Auf dem schon genannten Zirbitzkogel (2396 m) wurde nicht nur die dealate Gyne von Manica rubida gefunden, die ihrem Verhalten nach auf der Suche nach einer Gründungskammer oder Beute aus war, sondern weitere ungewöhnliche Funde wurden durch die Bestimmung der Belege gewonnen:
Lasius distinguendus (Behaarungsmerkmale sprechen gegen L. umbratus) im Gipfelbereich. Obere Verbreitungsgrenze: 500 - 599 m, thermophil.
Lasius cf. mixtus in etwa 1900 m Höhe. Obere Verbreitungsgrenze: 900 - 999 m, eher thermophil
Lasius niger auf etwa 1800 m Höhe. Obere Verbreitunsgrenze: zw. 1200 u. 1300 m
Lasius fuliginosus ebenfalls auf etwa 1800 m Höhe. Obere Verbreitungsgrenze: 1400 - 1499 m.

Anlässlich des Geotages in den Nockbergen Kärntens (21./22. Juli 2017) wurde eine alate Gyne von Lasius umbratus in etwa 2200 m gefunden. Obere Verbreitungsgrenze: 1100 - 1199 m.

Die Angaben zu Vertikalverbreitung und bevorzugten Habitaten nach dem jetzigen Wissensstand sind oben beigefügt (H. C. Wagner, Die Ameisen Kärntens)! Sie zeigen, dass vor allem der Thermik unter Tage eine bedeutende Rolle bei der Verfrachtung fliegender Geschlechtstiere zukommt. Zudem wehten in den letzten Tagen immer wieder stärkere Höhenwinde aus südlicher Richtung. Vor allem die thermophilen L. distinguendus und L. mixtus haben nicht nur eine bedeutende vertikale Verfrachtung von teilw. weit über 1000 m mitgemacht, sondern müssen auch eine beachtliche horizontale Verwehung etwa aus der Umgebung der Stadt Villach (ca 500 m Höhe) im Ausmaß von 20 km (Luftlinie) erlebt haben. Richtung Zirbitzkogel dürfte die horizontale Verwehung nicht viel weniger km betragen haben. Diese Angaben entsprechen dem derzeitigen Fundpunkten der angesprochenen Arten, niemand weiß, ob nicht noch näher am Gebirgsrand Funde der Arten zu erwarten sind.
L.G.
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Re: Luftverfrachtung von Geschlechtstieren

Beitragvon Radiergummi » Dienstag 25. Juli 2017, 12:57

Hallo,

ich habe eine Frage. Könnte der Kliemawandel und die Gletscherschmelze nicht im Zusammenhang stehen mit der Verbreitung von Arten in höhere Bergregionen. Wie sieht es eigentlich mit der Flora aus. Da müsste sich doch auch etwas verändern.
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Re: Luftverfrachtung von Geschlechtstieren

Beitragvon Merkur » Dienstag 25. Juli 2017, 13:47

Das geschieht ja auch in reichem Maß. Siehe z.B. Ausbreitung der Blauen Holzbiene (Xylocopa). Ich denke, Google wird sehr viel zu solchen Folgen der Klimaänderung zu sagen haben!

MfG,
Merkur
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Re: Luftverfrachtung von Geschlechtstieren

Beitragvon Reber » Mittwoch 26. Juli 2017, 17:00

Im Alpenraum sind die Rückgänge der Gletscher fotografisch und auf Kartenmaterial recht gut dokumentiert:
Bild
Die Entwicklung des Rhonegletschers von 1850 bis heute. (Foto: VAW-ETHZ)

Die Klimaerwärmung bedroht einige Arten, wie z.B. die Arve oder das Alpenschneehuhn. Andere Arten können aber umgekehrt von der Erwärmung profitieren. Das liegt an unterschiedlichen Einflüssen und Beziehungen zwischen anderen Arten: Anpassungsfähigkeit, Vermehrungsgeschwindikeit, Konkurrenz, Nahrung etc.

Einen deutlichen Vergleich, dachte ich, liesse das natürliche Ansteigen der Alpine Baumgrenze zu. Die Waldgrenze hängt ja von unterschiedlichen Faktoren ab und ist keine sauber zu ziehende Linie. Sie liegt schon nur in der Schweiz zwischen 1600 m.ü.M. (an exponierten und niederschlagsreichen Alpennordhang) und 2500 m.ü.M. (z.B. in Matteral, Wallis). Solche Klima- und umgebungsabhängigen Höhenunterschiede werden sich aber sicher auch auf unsere Ameisen auswirken!

Material zu einer allgemeinen Erhöhung der Baumgrenze konnte ich leider nicht finden. Dafür gibt es - wie Radiergummi schon vermutet hat - eine Untersuchung zur Bergflora mit dem Resultat, dass 90% der Pflanzenarten 86 Meter weiter oben als noch vor hundert Jahren vorkommen. Zudem kommen in 90% der untersuchten Gebiete im Durchschnitt zehn Arten mehr vor. Die bedeutendste Zunahme der Artenzahlen geschah in den letzten dreissig Jahren.
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