Starker Rückgang von Polyergus rufescens in den Niederlanden

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Starker Rückgang von Polyergus rufescens in den Niederlanden

Beitragvon Merkur » Montag 11. November 2019, 17:13

"Ist die Amazonenameise in den Niederlanden fast ausgestorben?"
https://www.researchgate.net/publicatio ... tgestorven
In der Zeitschrieft „De levende Natuur“ 120, Oct. 2019, steht ein Bericht über einen sehr bedenklichen Rückhang von Polyergus rufescens in den letzten Jahren
(ich muss gestehen, dass mir deren Vorkommen in den Niederlanden bisher nicht richtig bewusst war!).

Polyergus-Rückgang.jpg
aus van Loon et al. 2019.
Grau: Bekannte Vorkommen aus der Zeit vor 1990,
Schwarz: Nach 1990.
Aus der Zeit vor 1990 waren 39 Vorkommen bekannt, seit 1990 nur noch vier, wovon zwei möglicherweise auch bereits erloschen sind!

Der Artikel von van Loon et al. enthält einige gute Bilder und ein engl. Abstract. Diverse Ursachen des Rückgangs werden aufgezeigt.

Irgendwo fand ich kürzlich einen Hinweis, wonach auch die Ameisen allgemein im Zuge des „Insektensterbens“ weniger werden, doch sind mir keine jüngeren
wiss. Untersuchungen dazu bekannt (abgesehen von dem bereits sehr lange dokumentierten Rückgang der Waldameisen). Mehrere Kollegen und Kolleginnen beklagen
allerdings, dass die von mir früher intensiv untersuchten Sozialparasiten an „meinen“ Fundorten kaum noch anzutreffen seien.
Es wäre natürlich merkwürdig, wenn unsere Ameisen vom allgemeinen Rückgang der Insekten nicht betroffen wären; schließlich stellen Insekten eine der Haupt-Nahrungsquellen der Ameisen dar.
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Re: Starker Rückgang von Polyergus rufescens in den Niederla

Beitragvon Boro » Mittwoch 13. November 2019, 15:00

Danke für den interessanten Bericht.
Die Ursachen für den rapiden Rückgang an Insekten sind inzwischen hinlänglich bekannt. Bei uns in Kärnten ist es vorwiegend der Verlust an Lebensraum, da diese Insekten offene, thermisch begünstigte und weitgehend naturbelassene Habitate bewohnen, die in den letzten Jahrzehnten vermehrt der Zersiedelung bzw. Versiegelung riesiger Flächenanteile zum Opfer gefallen sind. Ruderalflächen als geeignete Habitate verschwinden zusehends. Die im Beitrag gezeigten Fotos aus den Niederlanden scheinen noch relativ gut geeignete Lebensräume (z. B. Ruderalflächen unter Windrädern) aufzuweisen.
Die Art ist auch weiter im Süden sehr selten: Sie fehlt in Liechtenstein, Vorarlberg, Tirol (einige lokale Funde), Salzburg bisher nicht belegt, Oberösterreich (ein paar historische, ein rezenter Fund). Wie die Verhältnisse im benachbarten Bayern liegen, ist mir im Detail nicht geläufig, jedenfalls sind Vorkommen aus dem Maingebiet bekannt. In Bayern ist die Art vom Aussterben bedroht.
Bei der Erhebung der Populationsdichte von Polyergus rufescens (Amazonenameise) gibt es generell Schwierigkeiten:
1. Die Nester sind schwer zu finden. Die Aktivitätsphase der Art beschränkt sich auf den Sommer, über 8 Monate gibt es keine Außenaktivität. Man müsste über viele Hektar geeigneter Lebensräume jedes Serviformica-Nest öffnen um einen möglichen Nachweis der Art zu erhalten. Das Glück, an einem heißen Nachmittag im Sommer durch Zufall über einen Raubzug zu „stolpern“, ist sehr gering.
2. An sich sind so gut wie alle sozialparasitischen Arten im Bestand bedroht, weil sie auf gesunde Wirtspopulationen angewiesen sind. Fehlt in diesem Fall eine entsprechende Dichte an Serviformica- Arten im Umkreis von etwa 100 m um ein etabliertes Polyergus/Serviformica-Nest, sieht es mit der Nestentwicklung nicht gut aus.
3. Vorkommen von Polyergus-Nestern sind meist inselartig, d. h., wenn man ein Nest findet, ist die Wahrscheinlichkeit groß, ein weiteres in der Umgebung zu finden. Diese „Geselligkeit“ der Nester ist auf die Ausbreitungstrategie der Art zurückzuführen. Diese erfolgt häufig, indem im Zuge des Schwärmens begattete Weibchen zum eigenen Nest zurücklaufen und dann in der Nachhut einem Raubzug der Amazonen (meist der eigenen Geschwister) folgen. Unmittelbar nach dem Raubzug dringt ein Weibchen in das „demoralisierte“ Nest ein und tötet sofort die dortige Königin um nach einigen nicht ungefährlichen „Prozeduren“ deren Stelle einzunehmen.
4. Die in Punkt 3 geschilderte Verbreitungsstrategie hat einen großen Nachteil: Ein bestehendes Polyergus-Nest duldet keine intraspezifische Konkurrenz in einer durch Raubzüge erreichbaren Distanz (ca. 100 m). Beim ersten Kontakt wird jedes Nest der gleichen Art im Rahmen eines Raubzuges vernichtet.
5. Wenn man auch von inselartigen Vorkommen der Art spricht (Pkt. 3.), gibt es keine dichten Populationen der Art, zumindest nicht auf längere Zeit. Langlebige Nester findet man selten, nur ein Nest konnte ich durch 14 Jahre sozusagen „begleiten“. Alle anderen waren deutlich kurzlebiger, sie wurden durch fremde Marschkolonen der eigenen Art vernichtet oder sie blieben aus ungeklärten Gründen verschollen.
L.G.Boro
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Re: Starker Rückgang von Polyergus rufescens in den Niederla

Beitragvon Merkur » Freitag 29. November 2019, 17:17

Polyergus rufescens in Südtirol auf 2000 m!

Die vielen Informationen über Polyergus rufescens hier im AP, vor allem von Boro, könnte man inzwischen zu einem „Sammelthread Polyergus“ zusammenführen. Ich denke, dass dieser Beitrag eine gute Fortsetzung zu seinem Kommentar im vorhergehenden Post darstellt.
Darin vermerkt Boro u. a.:
„Die Art ist auch weiter im Süden sehr selten: Sie fehlt in Liechtenstein, Vorarlberg, Tirol (einige lokale Funde), Salzburg bisher nicht belegt, Oberösterreich (ein paar historische, ein rezenter Fund). Wie die Verhältnisse im benachbarten Bayern liegen, ist mir im Detail nicht geläufig, jedenfalls sind Vorkommen aus dem Maingebiet bekannt. In Bayern ist die Art vom Aussterben bedroht.“
- In Bayern, zumindest in Unterfranken, habe ich die Art auch in jüngster Zeit noch an mehreren Orten angetroffen. Selten ist sie da allerdings durchaus, „schon immer“, und bedroht durch Veränderung der Habitate, Verbuschung oder gar Aufforstung von Trockenrasen. Bei Gambach, Nähe Karlstadt (Unterfranken) fand ich am 16. Juni 2013 ein mir zuvor nicht bekannt gewesenes Nest. Von den Tierchen zwei Bilder:

1-Pol.ruf.Juni-2013-142.jpg
Durch meinen Daumennagel kommt sie nicht.
2-Pol.ruf.Juni-2013-144.jpg
Aber autsch! Durch die Haut geht es! ;)

Der Beitrag von Boro hat mich aber an einen ganz besonderen Fund erinnert, ein Polyergus-Nest aus den Alpen, im Südtiroler Schnalstal, auf rund 2000m Meereshöhe!
Laut Seifert, Buch 2018, S. 345, steigt Polyergus in den Alpen bis auf 1500 m. Nach H.C. Wagner (2014, S. 321) ist sie in Kärnten an Trocken- und Halbtrockenrasen bis zu einer Seehöhe von 900 m gebunden.
Ich hatte das Volk in Südtirol während einer Zoologischen Alpenexkursion am 27. Juli 1991 bei Kurzras entdeckt. Eine Probe mit Arbeiterinnen und Geschlechtstieren von Polyergus sowie ein paar Sklaven (Formica rufibarbis, det. Seifert) hatte ich mitgenommen. Meine Alkoholsammlung habe ich 2015 an das Senckenberg-Museum in Görlitz (Kurator Dr. Seifert) gegeben, wo er die Probe jetzt auch gut finden konnte. Seiner Anregung folgend habe ich mich bemüht, die Fundstelle nach Gedächtnis und mit Hilfe von Google Earth genauer einzugrenzen.

3-Karte-Kurzras-a-241.jpg
Die ungefähre Lage des Fundorts
Im Ausschnitt einer alten Tabacco-Karte (Berichtigungsstand 1986) habe ich den Bereich dick rot umrandet. Anhand dieser Karte hatten wir uns 1991 auf der Exkursion orientiert. GPS und Google Earth gab's da noch nicht. - Inzwischen hat sich das Wintersportgebiet erheblich vergrößert, mehr Lifte und Pisten wurden angelegt.

4-Kurzras-15.10.2014 Kopie.jpg
Foto: Blick auf den Fundort von oben, Okt. 2014
Am 15. Oktober 2014 war ich während einer Urlaubsreise nochmals in Kurzras. Bei der Fahrt mit der Grawand-Gondelbahn habe ich dieses Bild aufgenommen (in der Karte ist es die Bahn von Kurzras zur rechten oberen Ecke). Das Nest sollte sich in dem Wiesenbereich unterhalb des Waldes ungefähr bei dem hellen X im Bild befunden haben. Kurzras liegt hier verdeckt in der rechten unteren Bildecke.
Vom Waldrand zum Bach lassen sich wallartige Erhöhungen erkennen; auf dem Kamm einer solchen Erhebung war das Nest. Eine Nachsuche 2014, nach 23 Jahren, wäre kaum erfolgreich gewesen, zumal Mitte Oktober. Google Earth zeigt in dem Bereich rund 2000 m Höhe an, mit kleinen reliefabhängigen Abweichungen. - Nahe der Grawandbahn-Bergstation liegt übrigens der Fundort vom „Ötzi“. ;)
Das Vorkommen von Polyergus im Schnalstal auf ca. 2000 m Höhe ist bisher unveröffentlicht; es war mir nicht klar, dass dies etwas Besonderes ist. Vielleicht findet es aber demnächst doch mal den Weg in eine Fachzeitschrift.

MfG,
Merkur
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Re: Starker Rückgang von Polyergus rufescens in den Niederla

Beitragvon Boro » Freitag 29. November 2019, 18:03

Hallo Merkur!
Interessant wäre in diesem Zusammenhang die Zusammensetzung der Wirtsameisenpopulationen. In diesem Fall war es F. rufibarbis, möglich wäre in dieser Höhe auch F. fusca oder F. lemani. F. rufibarbis war bisher in Kärnten nur bis max. 1000 m bekannt (H. C. Wagner, Die Ameisen Kärntens). Ich habe allerdings heuer im Sommer ein Nest v. F. rufibaris in fast 1500 m Höhe entdeckt und zwar auf der Egger-Alm in den Karnischen Alpen: viewtopic.php?f=46&t=2040
Der Fund war eindeutig und zeigt nur, dass wir bei weitem nicht alles etwa über Vertikalverbreitung der Arten wissen. Die Höhenangabe von Polyergus X F. rufibarbis passt klimatisch zu den Südalpen. Vor 2 Monaten hatte ich Funde aus den Cottischen Alpen unter dem Mikroskop, auch hier haben mich einige Belege der thermophilen F. rufibarbis aus etwa 2000 m Höhe überrascht. Ich habe durch Vergleiche zwischen Seifert 2007 und 2018 festgestellt, dass auch Seifert einige Höhenangaben auf den neuesten Stand gebracht hat.
Aber zurück zum Ausgangsthema:
Polyergus rufescens kann man auch "künstlich" vermehren, indem man begattete Gynen mit Hilfsameisen im Terrarium vergesellschaftet. Das ist aber recht kompliziert, ich habe fast 15 Jahre hindurch jeweils 1 bis 2 Nester zusammengestellt. Nach einigen Misserfolgen am Anfang, klappte die Nestgründung und Freisetzung später in etwa 90% der Fälle. Bleibt die Frage, ob man das machen soll bzw. ob es nicht einen unerlaubten Eingriff in die Natur darstellt. Wenn ich daran denke, wie viele Arten heute vom Aussterben bedroht sind und wieviele davon nur mehr in Zoos und speziellen Einrichtungen gezüchtet werden, denke ich, dass diese Maßnahme gerechtfertigt wäre. Auch in den Niederlanden würde ich solche Experimente in Betracht ziehen.
L.G.
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