Paracletus cimiciformis, Wurzellaus bei Ameisen

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Paracletus cimiciformis, Wurzellaus bei Ameisen

Beitragvon Merkur » Donnerstag 15. Januar 2015, 15:25

Sie drehen den Spieß um! Oder, wie National Geographic titelt, „Zwei Seiten eines Insekts, Schaf und Wolf im Schafspelz“:
http://phenomena.nationalgeographic.com ... -clothing/
(Das “Sheep in wolfs clothing“ wurde im Titel auf „wolf in sheep’s clothing“ geändert).
Worum geht es?

In Nestern einiger Ameisenarten, häufig vor allem bei Tetramorium spp., findet man gelegentlich recht große, gelblich-weiße Pflanzenläuse. Aufgrund ihres Erscheinungsbildes tragen sie den lat. Namen „cimiciformis“, „von Bettwanzen-Gestalt“ (http://www.ameisenwiki.de/index.php/Dat ... s_MAck.jpg ).

Bisher glaubte man, dass diese „Wurzelläuse“ ganz normal wie die vielen anderen Pflanzenlausarten vom Saft angestochener Pflanzen leben, und dass der abgeschiedene Honigtau den Ameisen als Nahrung diene.

Nun erschien eine sehr gründliche Untersuchung, die ganz Anderes zutage förderte: Diese Wurzelläuse stechen Larven der Ameisen an und saugen deren Hämolymphe!
“Aggressive mimicry coexists with mutualism in an aphid”, von Adrián Salazar, Benjamin Fürstenau, Carmen Quero, Nicolás Pérez-Hidalgo, Pau Carazo, Enrique Fonta. and David Martínez-Torres. http://www.pnas.org/content/early/2015/01/07/1414061112 .

Die internationale Forschergruppe aus Spanien, Deutschland und England hat sich eingehend mit dem komplizierten Generations- Formen- und Wirtswechsel von P. cimiciformis beschäftigt. Ein „vereinfachtes“ Schema ist in dem National Geographic- Artikel abgebildet. Nicht weniger als neun Morphen (unterschiedliche Gestalten) unterscheidet man im Lebenszyklus der Läuse. Untersucht wurde P. cimiciformis aus Spanien.

Was mich stutzig gemacht hat, war die Angabe, dass als „Primärwirt“ der Pistazienstrauch (Pistacia terebinthus) angegeben ist: Diese Pflanze ist im Mittelmeergebiet weit verbreitet. Doch habe ich die Läuse auch bei Tetramorium-Arten im Hochgebirge sowie an vielen Orten in Deutschland gefunden, wo weit und breit keine Pistazien zu finden sind! Das Verbreitungsgebiet von P. cimiciformis reicht von Europa bis nach Ostasien.

Dieses Rätsel löst sich erst beim Lesen des Originalartikels:
Unsere Paracletus cimiciformis verzichtet auf den Wirtswechsel und beschränkt sich auf den Sekundärwirt, auf Gräser (Poaceae), an deren Wurzeln sie in immer noch zwei Formen auftritt, einer grünen, rundlichen (RM, Round Morph), die ganz normal Pflanzensaft saugt und Honigtau abgibt, und eben der flachen (FM, Flat Morph), die von den Ameisen selbst ins Nest und zur Brut gebracht wird. Diese flachen, gelblichen Läuse aber saugen kaum an den Wurzeln, sondern stechen die Ameisenlarven an! – Das ist nicht tödlich für die Larven, aber es ist klar ein Abweichen vom üblichen symbiotischen Verhalten der Pflanzenläuse zu einem parasitischen Dasein.

Nun kommt noch der Jahreszyklus hinzu: Paracletus cimiciformis ist also eine Art, die in den warmen Verbreitungsgebieten holozyklich lebt (den kompletten Zyklus durchläuft, der zwei Jahre dauert). In kälteren Regionen dagegen, wo der Sommerwirt fehlt, ist sie „anholozyklisch“, macht also nur einen Teil des Lebenszyklus durch. Dabei fällt auch die geschlechtliche Generation weg, die in warmen Gebieten auf den Sommerwirt wechselt.

Dennoch findet man bei uns im Sommer oft zahlreiche schwarze, geflügelte Individuen in den Ameisennestern. Oft genug haben sie mich genarrt, denn auf den ersten Blick sehen sie aus wie kleine, geflügelte Geschlechtstiere von Ameisen. Bei Tetramorium denkt man dann gleich an die geflügelten Weibchen der arbeiterlosen Sozialparasiten, Anergates atratulus, oder im Gebirge gleich an Teleutomyrmex schneideri! – Der zweite Blick bringt die Enttäuschung: Die Tierchen tragen die Flügel ja nicht flach auf dem Rücken, sondern hochgestellt, wie das bei Blattläusen üblich ist!
Und in unseren kühleren Regionen sind diese Geflügelten alles Weibchen, die Graspflanzen aufsuchen, daran parthenogenetisch die grüne „round morph“ gebären, die wiederum parthenogenetisch die gelbliche „flat morph“ erzeugen. Und die wird aufgrund von Sekreten, die den Oberflächenpheromonen von Ameisenlarven gleichen, von den Ameisen ins Brutnest gebracht!

Die Originalarbeit enthält einige weitere spannende Informationen: Die grüne, runde Morphe war bisher als eigene Spezies Forda rotunda bekannt.
G. Adlerz hat 1913 bereits eine parasitische Lebensweise von P. cimiciformis angenommen, was später wieder bezweifelt wurde.
In China wurde beobachtet, dass flügellose Exemplare von P. cimiciformis den Winter in Nestern von Ameisen (Monomorium glyciphilum) verbringen, wo sie in den kältesten Monaten bis in 90 cm Tiefe anzutreffen sind. Im Frühling (April-Mai) kommen sie in die oberen Nestbereiche, können sich in der Sommerhitze aber wieder tiefer in die Nester zurückziehen. Im Juni verlassen geflügelte Aphiden die Ameisennester (Zhang et al. 1987). Das entspricht in etwa der Zeit, zu der man auch in den Alpen geflügelte Paracletus in Tetramorium-Nestern findet.

Was kann man aus diesem Bericht lernen?
1. Biologie kann ganz schön kompliziert sein.
2. Wie schon oft bemerkt ist die Sekundärliteratur über neue Forschungsergebnisse oft lückenhaft, nicht ausreichend und zum Teil sogar falsch.
3. Forschung kann ganz schön lange brauchen, bis ein überzeugendes Ergebnis vorliegt. Hier ist man in über 100 Jahren, seit 1913, in kleinen Schritten zum heutigen Kenntnisstand gelangt, und doch blieben ein paar Fragezeichen noch stehen.
4. Nicht alles lässt sich allein mit „modernen“ Methoden aufklären (obwohl Biochemie, Elektrophysiologie und Molekulargenetik auch in dieser Arbeit die wichtigsten Beiträge geleistet haben). Oft ist auch gründliches Studium “alter“ Literatur sehr aufschlussreich.
5. Bei weit verbreiteten Arten ist damit zu rechnen, dass in unterschiedlichen Regionen ihres Verbreitungsgebiets unterschiedliche Lebensweisen beobachtet werden können. Wie weit sie an die verschiedenen Bedingungen angepasst sind? Ob P. cimiciformis aus 2.000 m Höhe in den Alpen nach Verbringung an die spanische Südküste (wieder) holozyklisch werden und den Pistazienstrauch als Wirt nutzen kann? (Oder umgekehrt, ob spanische Paracletus in den Alpen anholozyklisch werden?). – Auch manche Ameisenarten haben sehr große und diverse Verbreitungsgebiete!

MfG,
Merkur
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