Hoi,
ein kleiner Versuch zum Nachweis der Blausäure (aktiviertes Prunasin, ein cyanogenes Glykosid)
Vorbereitung: Sammeln der Blätter durch Abbruch am Stengel-Zweig-Ansatz, Verpacken in 2 Plastikbeutel ineinander, im Inneren befinden sich die Blätter, zügiges Einfrieren (bei mir: -18°C, etwa 2 Stunden). Entnahme von zwei ganzen Blättern, brechen der Blätter innerhalb von 2 Blatt Küchenpapier (nimmt die durch Schmelzen des Eises als außen anhaftenden Feuchtigkeit ab), Einlegen in Glas, oben abgedichtet mit Frischhaltefolie. Nach 30 Minuten, OHNE entfernen der Frischhaltefolie ist dicht darüber ein Bittermandelgeruch wahrnehmbar, daneben der typische Geruch von frisch gebrochenen Pflanzenteilen.
Sollte irgend jemand den Versuch nachstellen und nichts riechen können (außer dem Geruch nach gebrochenen Pflanzenteilen), dann möge er bitte einen, oder mehrere Nichtverwandte fragen. Etwa 30 - 40 % aller Menschen können den Geruch nach Bittermandel nicht wahrnehmen.Den Versuch habe ich ohne Insekt durchgeführt.
EDIT 1 (16:20 Uhr) -
bitte nicht nachmachen, das Ergebnis wird sich kaum von dem von mir Vorgestellten unterscheiden, es sei denn durch den Tod des Versuchstieres, und ist eine Quälerei für das Tier:Nachdem sich ein Weberknecht in der Küche befunden hat, habe ich diesen für etwa 10 Minuten in das im Bild gezeigte Glas gegeben (~ 14:00 Uhr). Innerhalb dieser Zeit haben sich die Bewegungen deutlich verlangsamt, hat die Beine schlussendlich angezogen und sich reglos gezeigt. Ich habe ihn daraufhin daraus entfernt und ein anderes Glas gegeben. Während dieser Umlagerung hat er sich praktisch nicht bewegt, zeigte also die ähnlich den Insekten typische Körperhaltung mit angezogenen Beinen. Im sauberen Glas befindet er sich nun seit etwa 2 Stunden über der Heizung bei etwa 25 °C. Im Laufe dieser Zeit zeigte er kurze Episoden von sehr aktiven Fluchtversuchen bei Erschütterungen und fällt dann wieder in eine Körperhaltung mit angezogenen Beinen.
Was passiert: Eine Spinne hat Mitochondrien. Die darin enthaltene Atmungskette wird an der Cytochrom-C-Oxydase durch die Blausäure blockiert. Es wird weniger ATP gebildet. ATP ist der Weichmacher der Muskulatur (Aktin löst sich von Myosin), stellt dann die Energie zur Verfügung und wird dabei zu ADP und P. Die Muskulatur verbraucht das ATP. Fällt das ATP weg, sozusagen mit der letzten Bewegung, dann verbleibt der Muskel im kürzestmöglichen Zustand. Übrigens: Bei Spinnen gibt es eine Besonderheit: die Streckung der Beine erfolgt über einen Flüssigkeitsdruck (jedenfalls bei allen, über die ich gelesen habe), aufgebaut durch das Herz, die Beugung geschieht aber über das gewohnte Zusammenziehen von Muskeln [1]. Die Beine bleiben also solange angezogen, bis wieder ATP vorhanden ist. Entweder durch die übriggebliebenen, nicht durch Blausäure inaktivierten Cytochrom-C-Oxydasen, oder über alternative Wege - die eben nicht derart effizient sind. Noch ein kleines Nett-to-know: auch Spinnen haben Herzen. Auch Herzen arbeiten immer mittels Myosin- und Aktin-Filamente und das permanent. Herzmuskelzellen enthalten deutlich mehr Mitochondrien. Also setzt die Blausäure auch dort an.
Ich hoffe, dass sich der Weberknecht bis morgen halbwegs erholen wird. Wenn das der Fall ist, werde ich ihn in die Werkstatt bringen, dort kann er den Winter überleben - oder auch nicht. Dort haben sich schon einige andere Spinnen niedergelassen.
EDIT 2 (17:20 Uhr): Der Weberknecht hält sich bereits wieder auf den Beinen, sprich: der Körper wird selbstständig in der Luft gehalten. Btw.: das Glas mit den wiederaufgetauten und gebrochenen Kirschlorbeerblättern riecht durch die Frischhaltefolie immer noch nach Bittermandel.
EDIT 3 (22:00 Uhr): Der Weberknecht hängt an der Seite des Glases und wirkt putzmunter.
EDIT 4 (19.10., 8:00 Uhr): Der Weberknecht hängt nun im Wintergarten im Zitronenbaum. Über der Frischhaltefolie des Glases mit den Kirschlorbeerblättern riecht es noch immer nach Bittermandel.
Weshalb hat der Weberknecht die Blausäureexposition überlebt? Die Funktionsweise der Blausäure ist nun hoffentlich bekannt, warum ist der Tod des Organismus nicht eingetreten? Zunächst einmal: Die Dosis macht das Gift. Die Dosis der Blausäure, in diesem Fall über die Luft aufgenommen, wird neben der in der Luft angebotenen Konzentration über die Aufnahmedauer bestimmt. Die Blausäure wirkt dort am stärksten, wo sie in höherer Konzentration im Vergleich zur Konzentration der Mitochondrien und deren Cytochrom-c-Oxidase vorliegt.
Welche weiteren Stoffwechselvorgänge als Zielstruktur davon betroffen sind, habe ich im Einzelnen nicht herausfinden können. Das sind zu viele. Aber: Blausäure setzt an jedem mehrwertigen Metallion an. So gilt auch, dass Eisen-III-Ionen Blausäure binden. In der Medizin wird das bei Blausäurevergiftung genutzt: Ein Teil des im Blut enthaltenen Eisens wird von der funktionsfähigen II-Wertigkeit in die (für Sauerstoff uninteressante) III-Wertigkeit übergeführt und bindet die im Blut befindliche Blausäure. Dafür wird weniger Sauerstoff transportiert. Die Blausäure wird durch Abbau der betroffenen Atmungskettenproteine (und dem Ersatz durch frische, funktionsfähige Cytochrom-c-Oxidase) und anschließend durch verschiedene Stoffwechselvorgänge eliminiert. Beim Menschen bspw. wandelt unter anderem die Rhodanase mittels Schwefelübertragung die Blausäure in das harmlosere Rhodanid um.
Somit gilt:
Kirschlorbeerblätter haben bei Blattschneiderameisen nichts verloren - schon allein aufgrund der Tatsache, da sie eine der Pflanzen im europäischen Raum mit einer der höchsten Blausäurekonzentrationen ist. Es sei denn, die Haltungsbedingungen sind so gut, dass die Blausäure entgiftet werden kann, ohne dass das Volk dabei eingeht. Ob die Königin darunter allerdings so alt wird, wie sie alt werden könnte, wage ich zu bezweifeln. Sie ist der einzige Organismus innerhalb des Formicariums, der unter Umständen wiederholt der Blausäure ausgesetzt wird. Und die Eier und Spermien innerhalb der Fettpolster vor einer "fett- und wasserliebenden" Substanz schützen muss.
Pilze vertragen übrigens mehr Blausäure als Insekten und komplexere Organismen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass eine einzelne Pilzzelle auf sich alleine gestellt gute Überlebenschancen hat. Eine einzelne Zelle einer Ameise beispielsweise allerdings nicht. Blausäure wirkt bei komplexeren Organismen mit Zellgewebe unteschiedlicher Aufgaben nicht auf alle Zellen gleichermaßen. Wenn der Pilz unter Kirschlorbeer langsamer wächst, dann fängt der Pilz die wesentliche Menge an Blausäure ab. Muss also jeder für sich entscheiden, ob er das seinen Pfleglingen zumuten möchte. Ich jedenfalls nicht.
[1] THE MECHANISM OF EXTENSION IN THE LEGS OF SPIDERS - C.H. Ellis
Wissen ist Macht und Macht ist Kraft und Kraft ist Energie und Energie ist Materie und Materie ist Masse und deshalb krümmen große Ansammlungen von Wissen Raum und Zeit (Die Gelehrten der Scheibenwelt - Pratchett/Stewart/Cohen)