Es war einmal...

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Es war einmal...

Beitragvon Merkur » Samstag 13. November 2021, 18:10

Temnothorax unifasciatus im Winter. Aufzeichnungen aus meinen Anfängen in der Myrmekologie.

Es wird kalt jetzt im November 2021, wir haben die ersten Nachtfröste. Im Oktober 1962, vor etwa sechzig Jahren, habe ich als Student in Würzburg mit der Ameisenforschung begonnen. Geplant war eine Examensarbeit, in der ich mich um die Ökologie von Temnothorax unifasciatus kümmern sollte.
Der Winter 1962/63 begann früh, und er war lang und hart. Ich begann dennoch damit, im Freiland nach Völkchen dieser Ameise zu suchen. Bald fand ich, dass Nestchen von T. unifasciatus in Terrassenmauern und Lesestein-Riedeln der Weinberge recht zahlreich waren. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt waren die Völkchen in Spalten aufeinander geschichteter Steine schön komplett mit dem Saugrohr aufzunehmen. Die Nachttemperaturen lagen oft bei minus 12°C und darunter, und selbst tagsüber bei Sonnenschein bekam man rasch kalte Füße und klamme Hände. An der klapprigen Vespa musste ich den festgefrorenen Gasgriff immer mal mittels Kerzenflamme auftauen; Gasfeuerzeuge gab‘s noch nicht. Ameisen in Kältestarre rasseln im Exhaustor beim Aufsaugen wie Sandkörner.

1-T.uni.Riedel486.jpg
Alter Steinriedel im Wingert
Bild 1 zeigt einen sogenannten „Riedel“, hier bei Randersacker, einige Kilometer südlich von Würzburg. Lesesteine aus dem Weinberg waren über Jahrhunderte in teils langen, beidseitig mit groben Trockenmauern eingerahmten Wällen aufgehäuft worden. Dort warf man alles zusammen, was beim Hacken der Weinberge störte; die Winzer hießen ja auch „Häcker“. Oben waren die Riedel meist mit Gestrüpp bewachsen. Der hier gezeigte verlief an einem Westhang, hatte also eine Nord- und eine Südflanke. Hier blicken wir auf die Nordseite. Oben rechts im Hintergrund, vor dem Gebäude und der Baumreihe am Ufer, ist der mit Eisschollen bedeckte, zugefrorene Main zu erkennen. Unten am Fuß des Weinbergs verläuft die mit viel Salz aufgetaute B13. Schnee bedeckt den Wingert und die Krone des Riedels, wie auch in Bild 2 zu erkennen ist, hier die besonnte Südseite:

2-Riedel-Süds.506.jpg
Südseite des Riedels
Bild 2: Wo die Mauersteine mit engen Fugen aufeinander liegen, oder wo kleine, flache Steinplättchen zur Stützung dazwischen geschoben sind, lohnt es nach Ameisennestchen zu suchen.

3-Nistplatz-507.jpg
Ein Nistplatz von T. unifasciatus
Bild 3: Der Pfeil zeigt auf eine mit Detritus abgedichtete Spalte, in der sich ein Nest befindet!
Mit etwas Geschick und einem flachen Werkzeug (z. B. Axt) kann man so eine Spalte erweitern, evtl. sogar den Deckstein herausnehmen, ohne die Mauer zu beschädigen. Den Steinbrocken schiebt man danach wieder hinein.

4-Nest-m.-Ring-508.jpg
Der deckende Stein wurde entfernt
Bild 4: Hier ist das gelungen, und man erkennt den „Ringwall“, wo die Ameisen die Spalte mit allerlei Pflanzenmaterial und Erde rings um das eigentliche Nestchen abgedichtet haben. - Leider war es in diesem Fall fast leer, nur wenige Arbeiterinnen waren noch anwesend. Vielleicht ein absterbendes Völkchen?

5-T.uni.RiedelNest-493.jpg
Ein großes Völkchen von T. unifasciatus
Bild 5: In einem anderen Beispiel konnte ich einen Füllstein heraus holen, auf dem ein typisches Nest mit einem starken Volk von T. unifasciatus lebte. Der Füllstein war unter einen großen Stein geklemmt.

Die Nestchen fanden sich sowohl auf der besonnten Südflanke als auch, in geringerer Zahl, an der Nordflanke.
Auf der Südseite wurden die äußeren Steine an manchen Tagen von der Sonne so weit aufgeheizt, dass einzelne Arbeiterinnen die toten Tiere nach außen trugen. Auf der Nordseite herrschte strenger Frost über viele Wochen ohne Unterbrechung, ein beachtlicher Unterschied im Mikroklima, der den Völkchen auf der Südseite im Frühjahr einen Entwicklungsvorsprung von 3-4 Wochen verschaffte.
An manchen Stellen konnte ich Teile der Mauern so weit ab- und wieder aufbauen, dass ein Blick ins Innere möglich war. T. unifasciatus-Nestchen waren nur nahe der äußeren Oberfläche. Weiter innen, wo sich allmählich Erde und Humus angesammelt hatten, lebten andere Ameisenarten, u.a. der Gattungen Lasius, Myrmica, sowie Aphaenogaster subterranea. Die Temnothorax-Nestchen befanden sich auch stets von etwa der Mitte der Mauer bis an den oberen Rand, selten weiter unten.

6-Eiszapfen-509.jpg
Eiszapfen im Inneren des Riedels
Bild 6: Auf der Südseite, wo die Steine tagsüber aufgeheizt wurden, waren die Hohlräume trocken. Eventuelles Schmelzwasser von der Schneebedeckung des Riedels war abgeflossen bzw. abgetrocknet. Weiter innen und nach Norden dagegen war das Schmelzwasser in den kalten Innenräumen zu teilweise dicken Eiszapfen gefroren. Und gelegentlich sah man ein Nestchen, in dem die Ameisen von winzigen, glitzernden Eiskristallen umgeben waren!

7-Schema-Riedel.jpg
Der Riedel im Querschnitt
Bild 7 ist eine etwas ungelenke, grobe Skizze von den oben geschilderten Vorgängen, anhand eines Querschnitts durch den Riedel. Die braunen Rechtecke stamen von Klebstreifen, mit denen auf der Rückseite des Blattes Fotos eingeklebt waren. - In dieser Form wurde das nie publiziert, aber ich habe bereits damals gelernt, welchen Einflüssen diese Ameisen in der Natur ausgesetzt sind. Im Winter können sie ja nicht tiefer wandern, schon gar nicht ein neues Nest anlegen. Sie müssen tiefe Kälte ebenso ertragen wie heftige Temperaturwechsel zwischen Tag und Nacht. Und das trifft für viele Arten der Mittelbreiten zu, ob sie in Steinspalten, in trockenen Zweigen am Baum, oder in der Borke bzw. morschem Holz leben. Auch T. unifasciatus-Nester fand ich in der Borke von Baumstubben, oder am Fuß lebender Kiefern.

Ich zeige diese Beobachtungen so, wie ich sie seinerzeit dokumentieren konnte. Es gab bereits die Möglichkeit, Farbfotos aufzunehmen, aber das war jenseits meiner finanziellen Reichweite. Doch konnte ich lernen, in der Dunkelkammer des Instituts für den Direktor (Prof. Gößwald) s-w-Filme zu entwickeln, Fotos abzuziehen, auf Diagläser zu kopieren usw., gegen geringes Entgelt. Das habe ich natürlich auch für die Dokumentation meiner eigenen Forschung genutzt.

8-Weinbg.heute_3258.jpg
Heute...
Bild 8: Das letzte Bild habe ich am 13. Okt. 2020 in der Gegend aufgenommen, etwas nördlich von Würzburg. So sehen die seit vielen Jahren „bereinigten“ Weinbergsanlagen heute aus: Man hat die alten Terrassenmauern geschleift, samt allen darin lebenden Ameisen, Eidechsen, Blindschleichen, Glattnattern, Insekten, Schnecken etc. und der ebenfalls bemerkenswerten Flora, hat die Steine als Unterbau für die elegant geschwungenen Betonsträßchen benutzt, Anbaufläche gewonnen, und ein paar schöne Aussichtspunkte wie hier für Touristen zugänglich gemacht.
Gerade noch am oberen Rand der Weinbergsfläche sind geringe Reste der ursprünglichen artenreichen, naturnahen Flächen übrig geblieben!

Die alten Aufzeichnungen habe ich kürzlich mal wieder gefunden. Ich denke, sie könnten doch noch interessant sein, insbesondere im Vergleich zur modernen Wirtschaftsweise.

MfG,
Merkur
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