Ein Großraubzug von Formica sanguinea über 170 Meter!Ich weiß nicht recht, wo bei den diversen Beiträgen zur Blutroten Raubameise dieser Hinweis am besten Platz hätte. Aber ich möchte die alten Beobachtungen doch mal aus den vergilbten Stapeln gedruckter Literatur ans Licht holen!
Auslöser war für mich dieser Beitrag:
viewtopic.php?f=47&t=287&p=8428#p8423 Boro schreibt hier zu den Raubzügen von
F. sanguinea:
„Die zurückgelegten Distanzen sind beachtlich, bisher wurden etwa 50 m als Maximalentfernung angenommen (SEIFERT, S. 321), vor einigen Jahren konnte ich bereits Ende Mai einen Raubzug mit sicher 120 m Entfernung nachweisen, ich habe die Strecke extra nachgemessen (damals Bericht im alten AF).
In dem „Klassiker“ von H. Kutter (1969) findet sich eine gute Zusammenfassung zu zwei Arbeiten von Brun und Kutter (1947 und 1949), wo sogar
170 m angegeben werden. Zunächst also dieser Text aus: Kutter, H. 1969: Die sozialparasitischen Ameisen der Schweiz. Neujahrsblatt der Naturf. Ges. Zürich., 62 S.
Seite 29:Bei Binn im Wallis führt jenseits des tosenden Baches ein schmaler Fahrweg zum malerischen Kirchlein hinauf. Sehr wahrscheinlich ahnte kaum je ein Kirchgänger, dass sich auf diesem Strässchen jeweils im Juli während mehrerer Jahre dramatische Kriegsereignisse abgespielt haben. Längs dem Bach entlang hatten sich damals eine grössere Anzahl fusca-Kolonien häuslich eingerichtet. Auf der Bergscite wird der Pfad von einem abschüssigen Grashang begrenzt. Darüber befinden sich Gebüsche und ein verstecktes Felsband. Oberhalb dieser Felsen befand sich die Burg eines ansehnlichen sanguinea-Volkes. Die lineare Distanz von Burg zum Weg beträgt 60 m bei mindestens 20 m Höhendifferenz. Dieses Räubervolk plünderte nun ohne Unterbruch eim fusca-Nest nach dem ändern aus und dehnte seinen Aktionsradius schliesslich bis gegen das Kirchlein, das heisst bis auf eine Distanz von 170 m aus. Die erbeutete Puppenmenge war derart gross, die Gelegenheit derart günstig, der Heimweg aber jeweils derart beschwerlich, dass die Räuberinnen dazu übergingen, ihre gestohlenen Lasten nicht, wie üblich, sofort heimzuschaffen, sondern sie unter passenden Steinen auf der andern Wegseite zu deponieren und dort von einer Garnison bewachen zu lassen. Der eigentliche Heimtransport aus diesen provisorischen Depots erfolgte jeweils erst in den Abendstunden, zu einem Zeitpunkt, in welchem alle Kämpfe, der kühleren Temperatur wegen, aufhören. Ein aufmerksamer Beobachter konnte dann hunderte Puppen tragender Einzeltiere im hohen Gras bergwärts klettern sehen. Schliesslich bekamen die nie ganz leer werdenden Depots den Charakter und Rang von Ersatznestern und wurden durch den Zuzug von jungen Königinnen aus dem Hauptnest zu eigentlichen Zweignestern. Jetzt wurden die Depots nicht mehr entleert, die Erde unter den Steinen wurde ausgehoben und mit vielen Gängen durchzogen, die neu hinzugebrachtcn fusca-Puppcn nicht mehr aufgestapelt, sondern ordentlich arrangiert. Alle weiteren Details dieser 1946 und 1948 beobachteten Feldzüge sind in den Mitteilungen der Schweizerischen Entomologischen Gesellschaft zu finden (R. BRUN und H. KUTTER, 1947 und 1949).
Von den beiden Arbeiten Brun und Kutter kopiere ich nur die Titelseiten:

- Seiten 278 - 290

- Seiten 309 - 322
Man konnte damals sehr ausführlich erzählend über solche Beobachtungen berichten, was bereits an der Anzahl der Druckseiten ablesbar ist.

Nicht alle Deutungen sind heute noch vertretbar, aber die Fakten selbst bleiben informativ. Leider werden solche Arbeiten, zumal wenn sie nicht auf Englisch erschienen sind, zunehmend vergessen oder leben allenfalls als Titel in den Literaturverzeichnissen jüngerer Arbeiten fort.
Wer also Zugriff auf die Schätze einer Uni-Bibliothek hat, sollte durchaus auch dort einmal stöbern gehen: Vieles, was wir heute bereits stark abstrahiert im „Seifert (2007)" oder in den populären Büchern von Hölldobler und Wilson lesen, ist im Original doch oft weit besser nachvollziehbar.
Und klar: Ein Raubameisenvolk in der Labor- oder Privathaltung, in einer um den Faktor 100 oder noch mehr verkleinerten Umwelt, wird niemals Beobachtungen wie in der realen Welt ermöglichen! Das sollte man sich bei „ungewöhnlichen“ und unverständlichen Aktionen seiner Pet-Ants auch immer mal in Erinnerung rufen.
Näheres zu Heinrich Kutter und dessen myrmekologischen Beiträgen:
viewtopic.php?f=50&t=602#p3933MfG,
Merkur